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„Bei Veränderungsprozessen geht es nie allein um Technologie“

09.09.2021
von Redaktion F+H

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„New York Times“-Bestsellerautorin Charlene Li im Exklusiv-Interview mit f+h

Der Intralogistik-Systemanbieter Dematic hat sich bei der Ausgestaltung der Material Handling & Logistics Conference (MHLC) zum Ziel gesetzt, ein branchenübergreifendes Netzwerktreffen zum Thema Supply Chain zu initiieren. Um diesem Ansatz Rechnung zu tragen, wurde für die nächste Woche terminierte Online-Veranstaltung ein breit gefächertes Spektrum an Rednern zusammengestellt. Zu den Referenten gehört unter anderem Charlene Li. Wir haben uns mit der von Fast Company zu einer der kreativsten Personen in der Wirtschaft ernannten „New York Times“-Bestsellerautorin über das Thema Disruption ausgetauscht.

Wer sich mit dem Thema Disruption beschäftigt, kann den Eindruck gewinnen, dass alle aktuellen Geschäftsmodelle dem Untergang geweiht sind. Ist dem wirklich so?

Charlene Li: Ganz und gar nicht! Unternehmen können ihr bestehendes Geschäftsmodell beibehalten und dennoch ein exponentielles Umsatzwachstum generieren. Aber ich garantiere Ihnen, dass sich das Geschäft selbst verändern wird, und zwar dramatisch. Als T-Mobile in den USA zum Beispiel seine „Un-Carrier“-Strategie einführte, änderte das Unternehmen vieles: Von der Bündelung von Angeboten wie der Nutzung eines unbegrenzten Datenvolumens bis hin zur Abschaffung von Verträgen, die die Kunden für zwei Jahre an das Telekommunikationsunternehmen binden. Aber im Kern blieb das Geschäftsmodell dasselbe: Eine monatliche Gebühr für den Zugang zum Mobilfunknetz zu erheben. T-Mobile hat den US-amerikanischen Markt für Mobilfunkanbieter aufgemischt: Sehen Sie, die größeren Wettbewerber – AT&T und Verizon – wurden gezwungen, die Verträge mit ihren Kunden ebenfalls zu überdenken und neu aufzusetzen. Nicht zu vergessen: T-Mobile war mit seiner Strategie schließlich so erfolgreich, dass man mit der Nummer 3 im US-Mobilfunkmarkt, Sprint, fusioniert hat.

Laut Wikipedia ist „eine disruptive Technologie eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung vollständig verdrängt“. Geht es dabei wirklich nur um Technologie?

Charlene Li: Ich bin seit mehr als zwei Jahrzehnten als Analytikerin von Technologien und Unternehmen aktiv. Und eines kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass es nie alleine nur um Technologie geht, sondern immer um die Menschen und ihre Beziehungen. Nehmen wir das Internet, eine Technologie, die zweifelsohne zu einem Umbruch in unserem Leben geführt hat. Das Internet hat aber nicht Post-Dienstleister vom Markt verdrängt, ebenso wenig das Fernsehen beziehungsweise das Radio oder die Printmedien ersetzt. Wir erledigen noch immer viele Einkäufe in klassischen Ladengeschäften. Wir nutzen immer noch Telefone – zugegebenermaßen mittlerweile fast ausnahmslos Mobiltelefone. Was das Internet aber wirklich verändert hat, ist die Art und Weise, wie wir miteinander in Kontakt treten, die Art und Weise, wie jeder einzelne von uns auf unsere Gesellschaft Einfluss nehmen kann und wie wir uns miteinander vernetzen, und die Art und Weise, wie Macht geschaffen und geteilt wird. Aber um zu Ihrer Frage zurückzukehren: Technologie ist ausschließlich ein Werkzeug und wirkt ausschließlich dann disruptiv, wenn sie die Voraussetzungen dafür schafft, bestehende Beziehungen – seien es geschäftliche oder im Privatleben – in neue umzuwandeln.

Wie entsteht eigentlich Disruption?

Charlene Li: Grundvoraussetzung ist Wachstum, und je größer und schneller das Wachstum ist, desto größer fällt Disruption aus. Das liegt daran, dass Wachstum dazu führt, dass sich Beziehungen zwischen Personen und Unternehmen verändern – wir tun nicht mehr das Gleiche wie in der Vergangenheit, wir befriedigen unsere Bedürfnisse teilweise in anderen Kanälen, zum Beispiel kaufen wir bestimmte Waren online ein, und auch der in die Beziehungen investierte Aufwand verändert sich. Aus all diesen Gründen wirkt nun einmal Wachstum disruptiv – weil wir uns in einem Zustand des Wandels befinden. Und Veränderungen verursachen zunächst einmal Unbehagen. Dieser Zustand hält so lange an, bis wir wieder stabile und allseits vertraute Beziehungen herstellen können.

Unternehmen können ihr bestehendes Geschäftsmodell beibehalten und dennoch ein exponentielles Umsatzwachstum generieren. Aber ich garantiere Ihnen, dass sich das Geschäft selbst verändern wird, und zwar dramatisch
Charlene Li, „New York Times“-Bestsellerautorin

Hat die Digitalisierung die ihr vielfach zugesprochene disruptive Kraft?

Charlene Li: Die Optimierung eines Prozesses kann diesen effizienter machen, muss aber nicht zwangsläufig disruptiv sein. Wenn zum Beispiel Dokumente elektronisch unterschrieben werden, entfällt die Ineffizienz das Dokument auszudrucken, dieses zu unterschreiben, das unterschriebene Dokument einzuscannen und so weiter. Aber ist das disruptiv? Wohl kaum. Aber die Digitalisierung kann transformativ sein, wenn sie derart genutzt wird, dass sie sich durch die Verknüpfung von Arbeitsabläufen und Lieferketten positiv auf Geschäftsbeziehungen auswirkt. So können digitale Zwillinge zum Beispiel Was-wäre-wenn-Szenarien auf der Grundlage von Ist-Daten aus der Lieferkette simulieren, um etwa den Abverkauf von Produkten am Point of Sale vorherzusagen und entsprechend zu optimieren. Generell betrachtet, erfordert dies in Industrie und Logistik die Nutzung von Internet-of-Things-Sensoren, die über 5G-Netze miteinander verbunden sind. An dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte, dass ferner zwischen den Partnern in der Supply Chain Vereinbarungen darüber unerlässlich sind, wie die so generierten Daten gemeinsam genutzt werden. All dies ist nicht einfach in die Tat umzusetzen. Der Koordinationsaufwand und die Anzahl der damit einhergehenden Gespräche sind beachtlich. Schließlich gilt es, nicht nur die Voraussetzungen für die Prozesse und den Datenaustausch, sondern auch das Vertrauen bei allen Beteiligten zu schaffen.

Als ein beispielgebendes Unternehmen in Sachen disruptive Veränderung wird Amazon angeführt. Amazon wird nachgesagt, den Handel radikal zu ändern. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund ein, dass Amazon Buchläden in Innenstädten eröffnen möchte?

Charlene Li: Amazon hat die Art und Weise, wie wir einkaufen, verändert, indem es die Standards für den elektronischen Handel kontinuierlich angehoben hat. Nach Angaben des US-Handelsministeriums macht der E-Commerce jedoch nur 13,6 Prozent des kompletten Einzelhandels in den USA aus. Da Amazon im Online-Einzelhandel bereits so dominant ist, muss das Unternehmen, um weiter zu wachsen, die kanalübergreifenden Überlegungen und Kaufmuster verstehen. Amazon treibt auch die Disruption im physischen Einzelhandel mit seinen Amazon Go Stores voran – ein KI-gestütztes Einkaufserlebnis ohne Kassierer. Das Credo lautet: Scannen Sie Ihren Amazon-Code am Eingang des Ladengeschäfts, wählen Sie die gewünschten Artikel aus, legen Sie die Artikel in Ihren Einkaufskorb und verlassen Sie einfach den Store. Innerhalb weniger Minuten erhalten Sie online Ihre Rechnung. Selbst wenn die Amazon-Buchläden oder Amazon Go kein kommerzieller Erfolg sein sollten, werden die so gewonnenen Daten und Erkenntnisse für den Konzern äußerst wertvoll sein in seinem Bestreben, kontinuierlich exponentiell zu wachsen.

Die Fragen stellte Winfried Bauer, Chefredakteur f+h

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Text/Foto: f+h/Dematic, Charlene Li

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